Hochwasser an der Ruhr, „Blackout“ im gesamten Bochumer Süden: kein Strom, kein Trinkwasser, kein Telefon - was tun? Dieses Szenario und die Notfallversorgung der Bevölkerung haben am Wochenende 250 Einsatzkräfte unter der Regie der Stadt Bochum geübt. Dafür hat das städtische Referat für Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz in der Rupert-Neudeck-Schule ein Kriseninformations-Ersthilfezentrum - kurz: KIEZ - eingerichtet. Erstmals.
Schon von acht Uhr Morgens treffen Bochumer Hilfsorganisationen, Polizei, Bundeswehr sowie Feuerwehr und Rettungsdienst ein, um unter Leitung des kommunalen Krisenmanagements (KKM) das KIEZ einzurichten. Hier laufen an diesem Samstag, 4. Mai, alle Fäden zusammen, um die Hilfe für den Stadtteil und dessen Bewohnerinnen und Bewohner vor Ort koordinieren zu können. Banner und Schilder kennzeichnen das KIEZ, damit Hilfe suchende „Bürgerinnen“ und „Bürger“ den Weg finden. Die gespielten Notfallszenarios sind nur eingeweihten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Regie um Benjamin Wobig von der Johanniter-Unfallhilfe bekannt. Der Adrenalinspiegel der uneingeweihten Helferinnen und Helfer steigt, denn jede und jeder ist bemüht, schnell und zügig zu handeln. Nur: Wie in einer echten Krise, weiß nahezu niemand, was bevorsteht und wer ins KIEZ kommen wird.
Auf dem kiesbestreuten Flachdach der Rubert Neudeck-Schule richtet Ulli Weber, Mitarbeiter des Schulverwaltungsamts und Hobbyfunker, eine Antenne aus, die dort sonst nicht steht. Sie wird den neuen vom KKM geschaffenen Knotenpunkt auf dem Stadtwerke-Haus in der Innenstadt anfunken, dies auf einer eigenen Frequenz, die den Notfallfunk von Feuerwehr und Rettungsdienst entlastet. „Darüber soll heute und im Ernstfall die gesamte Behördenkommunikation laufen“, erklärt Sebastian Oestreich vom KKM. Die Energie für die Funkgeräte, die im Raum neben dem Krisenstab angeschlossen werden, liefern in einem Blackout die neu angeschafften Generatoren. Für diesen Betriebsfunk, der ausgefallene Telekommunikation im Katastrophenfall ersetzt, gäbe es bei einer größerer Lage für jeden Standort ein Gerät. „Darüber würden wir Feuerwehr und Rettungsdienst die Bedarfe aus der Bevölkerung melden“, erläutert Sebastian Oestereich. „An den Geräten sitzen dann Funker, die extra ausgebildet sind für Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben, also zum Beispiel von Polizei und Feuerwehr.“
Unten in Dahlhausen auf dem Parkplatz an der Lewackerstraße Straße und der DB-Strecke ganz nahe zur Ruhr haben das Technisches Hilfswerk (THW), die Deutsche Lebensrettungs-Gesellschaft (DLRG) und die Freiwillige Feuerwehr Bochum begonnen, eine 65 Meter lange Strecke aufzubauen, um 2.500 Sandsäcke Hand in Hand zu füllen. Palettenstapel halten quergelegte Leitern, in denen Verkehrshütchen stecken, denen die Einsatzkräfte die Spitzen abgeschnitten haben, um sie als Schütten für den Sand nutzen zu können. In Gitterkörben ziehen die Ehrenamtlichen die vollen Sandsäcke auf einem Palettenhubwagen zum Spazier- und Radweg, um die dortigen Häuser vor dem „Hochwasser“ zu schützen. 16 Tonnen Sand bewegen die fast 90 Helferinnen und Helfer. „Die Big Packs mit dem Sand kommen aus unserem Zivil- und Katastrophenschutzlager“, sagt KKM-Mitarbeiterin Gudrun Tews. Dorthin wandern nach der Übung auch die gefüllten Säcke. „1.300 befüllte Sandsäcke haben wir grundsätzlich immer griffbereit im Stadtgebiet“, schildert Fabian Steinmann vom THW. Weder bei Schneeschmelze noch Starkregen will Bochum unvorbereitet sein.
Oben vor der Schule brummt eines der neuen Notstromaggregate, eines, „das auch in Gebäude einspeisen kann“, erklärt KKM-Leiter Mario Reuther. Wenige Meter weiter läuft Wasser. Der Technische Betrieb der Stadt hat auf dem Schulhof eine mobile Zapfstelle für Trinkwasser aufgebaut. Denn keinen Strom zu haben, bedeutet schnell, kein Leitungswasser mehr zu haben. 1.000 Liter fasst einer der grauen Kunststoffbehälter, die Matthis Hegmann und Armin Dreier auf dem Pritschenwagen anliefern. „Das Wasser ist aus einem unserer Trinkwasser-Notbrunnen - dort füllen wir ab“, verrät Marcel Neuber vom Amt für Personalmanagement, der zusammen mit seinem Kollegen Christian Kaltner heute für die Wasserausgabe eingeteilt ist. Mit dem Wagenkran ließ sich das Wasser-Big-Pack nicht herunterheben - zu schwer. Die Notlösung: Vom Wagen füllt der Technische Betrieb das Wasser in einen zweiten, direkt an die Zapfstelle angeschlossenen leeren Container um. Über sechs Hähne können sich Bürgerinnen und Bürger mit frischem Trinkwasser versorgen - etwas, das in Krisenzeiten schnell zu knapp sein kann. Wer nicht genug Wasser im Haus hat, um sich zu versorgen, kann dies also im Kastatrophenfall in seinem KIEZ tun. „Wasser“, hat Christian Kaltner gelernt, „ist in einer Krise essentiell.“
Im KIEZ treffen derweil immer mehr Bürgerinnen und Bürgern ein - besorgte, verletzte, verwirrte, betrunkene. Bei den Hilfesuchenden handelt es sich um Laiendarstellerinnen und -darsteller des Jugendrotkreuzes (JKR). Unter der Regie von Anna Triebskorn verwandeln sich gesunde Ehrenamtliche in Unfallopfer - das jüngste ist gerade 18 Monate, der älteste Ende 50. An der eingerichteten Infotheke trudeln sie nach und nach ein, werden erfasst, weiter in die medizinische Erstversorgung begleitet. Dort verarztet das Gesundheitsamt unter Leitung von Dr. Susanne Hahn die Patientinnen und Patienten, die durch das Hochwasser „verletzt“ wurden. Herzinfarkt, Unterzuckerung, Platz- und Brandwunden, Schnitte, offene Brüche müssen sie versorgen.
An anderer Stelle der zum Kriseninformations- und Ersthilfezentrum umfunktionierten Rupert-Neudeck-Schule kümmern sich Notfallseelsorgerinnen und -Seelsorger um Besorgte und Verzweifelte, auch diese werden gespielt vom Jugendrotkreuz. Ihnen macht vor allem der inszenierte Zusammenbruch des Telefonnetzes zu schaffen - der so genannte „Blackout“, der heute den Bochumer Süden ausgerechnet bei dramatischem Hochwasser trifft. „Nicht kommunizieren zu können, ist aus unserer Sicht das größte Problem“, weiß Helmut Leitmann, katholischer Notfallseelsorger. „In der heutigen Zeit sind wir daran gewöhnt, jederzeit jeden erreichen zu können. Wenn das heutzutage nicht klappt, jemanden per Anruf oder SMS zu erreichen, macht sich schnell Panik breit.“ Für Bochum stehen 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 24/7 für die Notfallseelsorge bereit - ehrenamtlich. Großeinsätze sind für sie dabei eine Seltenheit, der Besuch bei Hinterbliebenen, um sie über Todesfälle von Angehörigen - zum Beispiel durch Verkehrsunfälle - zu informieren, leider der traurige Alltag. Heute im KIEZ gilt es für die Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger unter anderem, Kinder zu beruhigen, die im Hochwasser ihre Eltern aus den Augen verloren haben, oder Erwachsene, die auf Hilfe angewiesene Verwandte telefonisch nicht erreichen oder nicht besuchen können.
KKM-Leiter Mario Reuther freut sich im Laufe der Übung über Ablauffehler und Umsetzungsprobleme, die vor Ort Lösungen vom KIEZ-Leiter Dirk Leistner erfordern: „Genauso soll es sein, denn wir wollen wissen, wo wir was verbessern können. Ziel der Übung ist, das zu erkennen, Abläufe und Zusammenarbeit zu verbessern.“ Dirk Leistner, der normalweise das städtische Referat für Service leitet, ist zufrieden mit der Premiere, die er mit allen Einsatzkräften meistern musste. Im Nachgang wertet das KKM mit Beobachterinnen und Beobachtern die Übung aus, legt fest, wie Funktionsräume besser bestückt werden müssen, wie Schnittstellen sich besser abstimmen müssen, ob Laufwege im KIEZ kürzer werden können, wie Kommunikationsabläufe besser gesteuert werden können. Sophie Sauer vom KKM hat die Übung vorbereitet und bilanziert zufrieden: „Wir haben viele Lernerfolge mitgenommen.“
Im Ergebnis lässt sich vor der intensiven Auswertung schon sagen: Ein KIEZ einzurichten und interdisziplinär zu besetzen, ist absolut sinnvoll in Krisenlagen, die Motivation aller Einsatzkräfte hoch, die Zusammenarbeit der Akteurinnen und Akteure bereits gut bis sehr gut. „Das bestärkt uns“, fasst Mario Reuther zusammen. Das Lob teilt seine KKM-Kollegin Sophie Sauer: „Meine Erwartungen wurden heute weit übertroffen.“
(8. Mai 2024)